Anmerkungen zur Transkription:
Der Text stammt aus: Vorkritische Schriften. Band II.Hg. v. Artur Buchenau. Berlin: Bruno Cassirer 1912 (= Immanuel KantsWerke II). S. 329–390 u. 481–484(Lesarten).
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Königsberg
bei Johann Jacob Kanter
1766
Das Schattenreich ist das Paradies der Phantasten. Hierfinden sie ein unbegrenztes Land, wo sie sich nach Belieben anbauenkönnen. Hypochondrische Dünste, Ammenmärchen undKlosterwunder lassen es ihnen an Bauzeug nicht ermangeln. DiePhilosophen zeichnen den Grundriß und ändern ihn wiederumoder verwerfen ihn, wie ihre Gewohnheit ist. Nur das heiligeRom hat daselbst einträgliche Provinzen; die zwei Kronen desunsichtbaren Reichs stützen die dritte, als das hinfällige Diademseiner irdischen Hoheit, und die Schlüssel, welche die beide Pfortender andern Welt auftun, öffnen zugleich sympathetisch die Kasten dergegenwärtigen. Dergleichen Rechtsame des Geisterreichs, insofernes durch die Gründe der Staatsklugheit bewiesen ist, erheben sichweit über alle ohnmächtige Einwürfe der Schulweisen, und ihrGebrauch oder Mißbrauch ist schon zu ehrwürdig, als daß er sicheiner so verworfenen Prüfung auszusetzen nötig hätte. Allein diegemeine Erzählungen, die so viel Glauben finden und wenigstensso schlecht bestritten sind, weswegen laufen die so ungenütztoder ungeahndet umher und schleichen sich selbst in die Lehrverfassungenein, ob sie gleich den Beweis vom Vorteil hergenommen(argumentum ab utili) nicht vor sich haben, welcher derüberzeugendste unter allen ist? Welcher Philosoph hat nicht einmalzwischen den Beteurungen eines vernünftigen und fest überredetenAugenzeugen und der inneren Gegenwehr eines unüberwindlichenZweifels die einfältigste Figur gemacht, die man sichvorstellen kann? Soll er die Richtigkeit aller solcher Geistererscheinungengänzlich ableugnen? Was kann er vor Gründe anführen,sie zu widerlegen?
Soll er auch nur eine einzige dieser Erzählungen als wahrscheinlicheinräumen? Wie wichtig wäre ein solches Geständnis,und in welche erstaunliche Folgen sieht man hinaus, wenn auchnur eine solche Begebenheit als bewiesen vorausgesetzet werdenkönnte! Es ist wohl noch ein dritter Fall übrig, nämlich sichmit dergleichen vorwitzigen oder müßigen Fragen gar nicht zubemengen und sich an das Nützliche zu halten. Weil dieserAnschlag aber vernünftig ist, so ist er jederzeit von gründlichenGelehrten durch die Mehrheit der Stimmen verworfen worden.
Da es ebensowohl ein dummes Vorurteil ist, von vielem, dasmit einigem Schein der Wahrheit erzählt wird, ohne Grund ...