Erster Band.
Unter Buchen.
Gesammelte Erzählungen
von
Friedrich Gerstäcker.
Leipzig,
Arnoldische Buchhandlung.
1865.
Inhaltsverzeichniß.
Seite | |
Eine alltägliche Geschichte | 1 |
Die Vision | 16 |
Folgen einer telegraphischen Depesche | 131 |
Der Polizeiagent | 140 |
Eine Heimkehr aus der weiten Welt | 274 |
Wenn wir einmal sterben | 289 |
Es war auf einem Balle in der Erholung, daßDr. Kuno Brethammer Fräulein Bertha Wollmerkennen lernte – oder vielmehr zum ersten Male sah,und sich sterblich in sie verliebte.
Bertha Wollmer trug ein einfaches weißes Kleid,einen sehr hübschen Kornblumenkranz im blonden Haarund sah wirklich allerliebst aus. Aber es bleibt immerein gefährlich Ding, wenn sich ein Mann eineHausfrau auf einem Balle sucht. Der Ballsaal sollteder letzte Ort dazu sein, denn dort ist Alles in Lichtgehüllt, und er wird geblendet und berauscht, wo ergerade Augen und Verstand nüchtern und besonnenauf dem rechten Fleck haben müßte.
Diesmal hatte aber Dr. Brethammer seine Wahlnicht zu bereuen, denn Bertha Wollmer war nicht alleinein sehr hübsches Mädchen, das sich mit Geschmack zukleiden wußte, sondern auch außerdem wacker und brav,ein wirklich edler Charakter und eine, wie sich später herausstellte, vortreffliche Wirtschafterin. – DerDoctor hätte auf der Welt keine bessere Lebensgefährtinfinden können.
Gegen ihn selber ließ sich eben so wenig einwenden.Er war etwa 34 Jahre alt, Advocat mit einerrecht guten Praxis, hatte also sein Auskommen, galtin der ganzen Stadt für einen braven, rechtschaffenenMann, schuldete keinem Menschen einen Pfennig undals er, vierzehn Tage später, um Bertha Wollmer anhielt,sagte das Mädchen nicht nein, und Vater undMutter sagten ja, worauf dann noch in der nächstenWoche die Verlobungskarten ausgeschickt wurden.Zwei Monate später fand die Hochzeit statt.
So lebten die beiden Leute viele Jahre glücklichmiteinander, und Dr. Brethammer sah mit jedem Tagemehr ein, daß er eine außerordentlich glückliche Wahlgetroffen und Gott nicht genug für sein braves Weibdanken könne. Er liebte sie auch wirklich recht vonHerzen, aber – wie das oft so im Leben geht – das,was sein ganzes Glück hier bildete, wurde ihm –durch Nichts gestört – endlich zur Gewohnheitund er vernachlässigte, was er hätte hegen undpflegen sollen.
Es mag sein, daß seine Liebe zu der Gattin deshalbnie geringer wurde, aber er vernachlässigte auch die Form, die in einem gewissen Grade in allenLebensverhältnissen nöthig ist: er war oft rauh mitseiner Frau,