Anmerkungen zur Transkription:
Der Text stammt aus: Immanuel Kants Werke. Band IV. Schriften von1783–1788. Herausgegeben von Dr. Artur Buchenau und Dr. Ernst Cassirer.Berlin: Bruno Cassirer 1913. S. 167–176und 538–539 (Lesarten).
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169Aufklärung ist der Ausgang des Menschen ausseiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeitist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung einesanderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit,wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes,sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohneLeitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dichdeines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruchder Aufklärung.
Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großerTeil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremderLeitung freigesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gernezeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leichtwird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem,unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstandhat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, derfür mich die Diät beurteilt usw., so brauche ich mich ja nichtselbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn ichnur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäftschon für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Teilder Menschen (darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schrittzur Mündigkeit, außer dem daß er beschwerlich ist, auch für sehrgefährlich halte, dafür sorgen schon jene Vormünder, die dieOberaufsicht über sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdemsie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben und sorgfältigverhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schrittaußer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperreten, wagendurften, so zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet,wenn sie es versuchen, allein zu gehen. Nun ist diese Gefahrzwar eben so groß nicht, denn sie würden durch einigemalFallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der Art170macht doch schüchtern und schreckt gemeiniglich von allen fernerenVersuchen ab.
Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus derihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten.Er hat sie sogar liebgewonnen und ist vorderhand wirklich unfähig,sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihnniemals den Versuch davon machen ließ. Satzungen und Formeln,diese mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs odervielmehr Mißbrauchs seiner Naturgaben, sind die Fußschellen einerimmerwährenden Unmündigkeit. Wer sie auch abwürfe, würdedennoch auch über den schmalesten Graben einen nur unsicherenSprung tun, weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhntist. Daher gibt es nur wenige, denen es gelungen ist, durcheigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeitherauszuwickeln und dennoch einen sicheren Gang zu tun.
Daß aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich;ja es ist, wenn man ihm nur Fre